»Man sollte die Realität kennen«
Welches Kriegsende ist akzeptabel? Die Stimmung in der Ukraine ist komplexer als viele hiesige Erzählungen einräumen
Von Jan Ole Arps

In der deutschen linken Debatte zum Krieg in der Ukraine dominieren zwei Erzählungen: Da gibt es entweder eine zwangsrekrutierte Arbeiter*innenklasse, die massenhaft desertiert, weshalb der Krieg sofort und fast egal zu welchen Bedingungen enden muss. Oder es gibt eine Bevölkerung, die entschlossen gegen den russischen Überfall steht und alle besetzten Gebiete befreien würde, wenn sie nur genug Waffen bekäme. Es gibt entweder einen autoritären Staat, von der Diktatur Putins kaum noch zu unterscheiden, der sich vom Westen in einen Stellvertreterkrieg gegen Russland einspannen ließ, oder eine eigentlich gut funktionierende Demokratie, die »Europas Freiheit« verteidigt.
Menschen in der Ukraine beschreiben eine widersprüchlichere Lage. Das oppositionelle russische Exilmedium Meduza veröffentlichte am 12. März einen Bericht mit zahlreichen Gesprächen in einem guten Dutzend Orten quer durch die Ukraine. Die Äußerungen eines jungen Soldaten in Sloviansk, unweit der Front in der Region Donezk, stehen exemplarisch für das, was viele sagen: »Ich will nicht, dass die Russen in mein Zuhause kommen.« Aber auch: »Wenn ich Politiker wäre, hätte ich längst ein Abkommen ausgehandelt. Ich möchte einfach, dass der Krieg aufhört.« Gleichzeitig erklärt der 25-Jährige, der schon dreimal verwundet wurde, er glaube, die Ukraine werde bis zum Sieg kämpfen müssen. »Es wäre psychologisch schwer für mich, Putins Bedingungen zuzustimmen. Wir müssen kämpfen. Was sollen wir sonst tun?«
Ähnlich hin- und hergerissen äußern sich andere Befragte. Man habe schon zu viel durchgemacht, um einen von Russland diktierten Waffenstillstand zu akzeptieren. »Viele meiner Freunde sind tot«, sagt ein Student in Mykolajiw. »Putin muss sterben und die Ukraine muss vollständig befreit werden.« Eine Frau in Lwiw, deren gerade volljähriger Sohn, ein Freiwilliger, gefallen ist, sagt, sie wolle nicht, dass noch mehr junge Männer sterben. Ein Soldat, der seit drei Jahren kämpft, berichtet, an der Front gehe es nur noch ums Überleben; Gebiete militärisch zu befreien, sei nicht mehr möglich. Man solle den Donbas einfach »amputieren«. Viele der Zitierten sind bereit, Gebiete ganz oder vorübergehend aufzugeben, wenige sind kategorisch dagegen, manchmal aufgrund eigener Erfahrungen mit dem Leben unter Besatzung. Zugleich sind fast alle Interviewten skeptisch, dass mit Putin echte Verhandlungen möglich sind. Viele klagen zudem über Korruption in der Ukraine und verlorenes Vertrauen in die Politik.
Gebiete abtreten? Weiterkämpfen?
Meinungsumfragen zeichnen ein ähnliches Bild. Ende Februar/Anfang März sprachen sich laut Umfragen des Kyiv International Institute of Sociology (KIIS) in allen Gebieten unter ukrainischer Kontrolle (in den besetzten Gebieten sind keine Meinungsumfragen möglich) 50 Prozent gegen territoriale Konzessionen aus (gegenüber 51 Prozent im Dezember). Über 60 Prozent hielten solche in früheren Umfragen aber für akzeptabel, wenn die Frage mit einer Mitgliedschaft der (verbleibenden) Ukraine in der EU oder Nato verbunden war. Daran, dass Russland sich mit den bisher erreichten Kriegszielen zufrieden gibt, glaubt wiederum nur eine kleine Minderheit. Zugleich unterstützte letzten Sommer nur eine Minderheit schärfere Mobilisierungsgesetze, während eine Mehrheit Verständnis für jene äußert, die sich der Mobilisierung entziehen.
Von denen, die seit 2022 kämpfen, sind heute viele tot, verwundet oder ausgebrannt. Entsprechend ist die Zahl der Deserteure und jener, die sich der Mobilisierung entziehen, massiv gewachsen – wie viele es genau sind, ist ein Geheimnis. Soldaten kritisieren, dass es keine Perspektive auf Demobilisierung gibt, die Ausbildung schlecht, die Ausrüstung mangelhaft und Befehlshaber*innen korrupt, inkompetent oder sadistisch seien. Nicht wenige kehren nach einigen Wochen unerlaubter Abwesenheit aber auch zu ihren Einheiten zurück oder bemühen sich um Versetzung.
Vitaliy Dudin von der linken Organisation Sotsialniy Rukh spricht gegenüber ak von einer Vertrauenskrise zwischen Bevölkerung und Regierung. »Der oligarchische Kapitalismus in der Ukraine ist der Hauptgrund, warum die Armee unterversorgt ist, warum Arbeiter*innen in der kritischen Infrastruktur keinen würdigen Lohn erhalten und warum Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind, nicht gut untergebracht werden«, sagt Dudin. »Der Staat richtet sein Handeln an der kleinen Gruppe der sehr Reichen aus. Natürlich ist unser größter Feind aktuell der russische Imperialismus, der unser Land und unsere Demokratie zerstören und unsere Bevölkerung versklaven will. Aber er ist auch deshalb relativ erfolgreich, weil unser System dysfunktional ist. Statt strategisch wichtige Unternehmen zu nationalisieren, Unternehmen stärker zu besteuern und alle verfügbaren Ressourcen planvoll einzusetzen, bürdet die Regierung die Hauptlast den ärmsten Teilen der Gesellschaft auf.«
Dudin ist der Meinung, dass diese Erfahrung viele Menschen kritischer gegenüber der Regierung gemacht habe. Trotz Krieg und Kriegsrecht gebe es Widerstand gegen Sparmaßnahmen im ohnehin überlasteten Gesundheitswesen. In Kiew und Lwiw protestierten Studierende gegen den Umbau von Universitäten. Gegen die geplante Schließung des Bezirkskrankenhauses im zentralukrainischen Poltawa rief die Bewegung der Pflegearbeiter*innen, #BeLikeNina, zu Protesten auf. »Die Leute dort sind wütend. Die Schließung trifft die Menschen in der ganzen Region, vor allem in den kleineren Orten, die das Krankenhaus versorgt hat. Es war eine der größten Kampagnen gegen die Schließung von Gesundheitseinrichtungen, trotz der Protestverbote unter dem Kriegsrecht«, so Dudin. »Aus meiner Sicht sind die Proteste ein großer Erfolg für die ukrainische Gesellschaft, auch wenn sie ihre Ziele nicht erreicht haben. Sie haben viele Menschen daran erinnert, dass wir Rechte haben und unser Staat diese Rechte und bessere Lebensbedingungen garantieren sollte.«
Das Problem der Machtasymmetrien
Dudin glaubt aber auch, dass es aktuell keine Alternative zum Kampf gegen die russische Invasion gebe. Illusionen, dass die ukrainische Armee alle besetzten Gebiete befreien könne, macht er sich nicht, aber die russische Führung werde sich erst auf echte Verhandlungen einlassen, wenn der militärische oder ökonomische Druck wachse. Ein mögliches Abkommen über den Ausverkauf von Bodenschätzen sieht Dudin ebenso kritisch wie das Beharren auf Nato-Mitgliedschaft. »Wir sollten weniger über die Nato und über die toxischen Hilfen aus den USA sprechen, die uns nur abhängig von verrückten Rechten wie Trump machen, und mehr darüber, wie wir unabhängig bleiben und stärker werden können.« Mehr Hoffnung setzt er in die europäischen Regierungen, auch wenn er kritisiert, dass diese über Umwege weiter Gas und Öl aus Russland beziehen und so Putins Kriegskasse füllen.
Laut dem Centre for Research on Energy and Clean Air haben EU-Staaten im vergangenen Jahr knapp 22 Milliarden Euro für Öl und Gas aus Russland ausgegeben. Dem stehen knapp 19 Millionen Euro an Finanzhilfen für die Ukraine gegenüber. Der Verband unabhängiger Gewerkschaften, KPVU, der kleinere, kämpferischere der beiden Gewerkschaftsverbände, fordert daher von westlichen Partnerorganisationen, sich für schärfere Sanktionen gegen Russland einzusetzen, aber auch für mehr finanzielle und humanitäre Unterstützung sowie Militärhilfen für die Ukraine.
Wir sollten weniger über die Nato und die toxischen Hilfen aus den USA sprechen, die uns nur abhängig von verrückten Rechten wie Trump machen. (Vitaliy Dudin)
»Unser Problem sind die Machtasymmetrien zwischen unserem Land und dem Westen, aber auch Machtasymmetrien und Ungleichheit innerhalb der Ukraine«, sagt Dudin. In der Tat wirken sich diese Machtasymmetrien auf die Chancen für eine unabhängige Entwicklung des Landes drastisch aus. In den Gesprächen mit der US-Regierung sitzt Putin am längeren Hebel, er kann auf die militärische Überlegenheit Russlands bauen. Die Ukraine dagegen ist von westlicher Unterstützung abhängig. Viele europäische Regierungen beteuern zwar, dass sie »zur Ukraine stehen«, aber in den europäischen Gesellschaften sinkt die Bereitschaft für finanzielle Unterstützung. Selbst, wenn die EU-Staaten die wackeligen US-Militärhilfen ausgleichen wollten, wären sie dazu kaum in der Lage. Insbesondere bei militärisch wichtigen Geheimdienstinformationen und dem für die Kriegsführung mit Drohnen unerlässlichen Internetzugang ist die Ukraine voll und ganz von den USA und Musks Starlink-Satelliten abhängig.
Hinzu kommen hausgemachte Ungerechtigkeiten. Diejenigen, die an der Front landen, sind vor allem Menschen aus der Arbeiter*innenklasse, die kein Geld für Bestechungen haben, um der Mobilisierung zu entgehen. Es häufen sich Berichte über den Einsatz von Gewalt und Zwang bei der Rekrutierung, ebenso über Widerstand gegen Rekrutierer.
Hierauf angesprochen, erklärt Dudin, er sehe keine einfache Lösung. Sotsialniy Rukh richte sich danach aus, das Leben der Lohnabhängigen erträglicher zu machen. »Auf der einen Seite gibt es Arbeiter*innen, die schon seit Jahren in den Schützengräben liegen, auf der anderen Seite Arbeiter*innen, die nicht eingezogen werden wollen. Wenn wir die Mobilisierung stoppen, machen wir das Leben derer, die bereits eingezogen sind, noch schwerer. Im Krieg sollten die Lasten möglichst fair verteilt werden. Arbeiter*innen leiden viel stärker als Menschen aus der Mittel- und Oberschicht, die mehr Möglichkeiten haben, den Militärdienst zu vermeiden.« Die Zwangspraktiken der Rekrutierungsstellen müssten aufhören, eine gerechte Mobilisierung sei aber weiter nötig. »Nur glauben wir kaum, dass unsere Regierung Gerechtigkeit herstellen wird, auch nicht bei der Mobilisierung.«
Wohin mit den Widersprüchen?
Über die Haltung von Arbeiter*innen zur Mobilisierung macht sich auch der ukrainische Sozialwissenschaftler Denys Gorbach Gedanken, der an der Universität Lund in Schweden lehrt und, basierend auf Feldforschung in seiner Heimatstadt Krywyj Rih, über die Lage der ukrainischen Arbeiter*innenklasse forscht. In einem Interview mit der Jungle World sagt er: »Ukrainische Arbeiter denken ziemlich pragmatisch. Es sind Umstände außerhalb ihrer Kontrolle, die sie dazu zwingen, in diesem Krieg zu kämpfen, den sie hassen. Gäbe es morgen einen Waffenstillstand, wären die meisten wohl erleichtert. Einige hatten Hoffnungen auf Trump gesetzt. Aber sein Verhalten der vergangenen Wochen und die Bedingungen, die er stellt, hat viele Leute in Krywyj Rih schockiert, weil das nicht der Frieden ist, den sie wollen.«
Dass viele Ukrainer*innen widersprüchlich handeln – etwa Spenden für die Armee sammeln, aber sich gleichzeitig vor den Rekrutierern verstecken –, sei nicht verwunderlich. »Die meisten denken eben nicht in abstrakten Kategorien, sondern daran, irgendwie zu überleben, und verfolgen individuelle Strategien.« Gorbach sagt, einerseits wünschten sich alle ein Ende des Sterbens. »Aber allen ist auch klar, dass ein instabiler Waffenstillstand die Fortsetzung des Kriegs in näherer Zukunft bedeuten kann, wie es schon in der Vergangenheit war. Die Forderung nach Sicherheit vor einem erneuten russischen Angriff ist keine Forderung der ukrainischen Bourgeoisie oder einer tyrannischen Selenskyj-Regierung.«
Auch bei Urteilen über den Wunsch vieler Ukrainer*innen nach einer EU-Mitgliedschaft mahnt Gorbach zu Zurückhaltung: »Osteuropäische Staaten wie Tschechien oder Ungarn haben sich nach 1989 vor allem vom deutschen Kapital kolonisieren lassen. Heute ist es um einiges angenehmer, dort zu leben als in der Ukraine. Für die meisten Ukrainer wäre es schon ein enormer ökonomischer Aufstieg, würde sie zu einem peripheren EU-Staat.« Fraglich sei eher, ob es für westliches Kapital überhaupt noch attraktiv sei, in die zerstörte Ostukraine zu investieren, wo im schlimmsten Fall nur ein fragiler Frieden herrsche. »Das Land droht in eine Grauzone abzurutschen, in der es keine Kapitalinvestitionen gibt, kein Wachstum, aber dafür eine Menge traumatisierter und bewaffneter Männer.« Das sei ein weit bedrohlicheres Szenario als die Abhängigkeit von der EU.
Gorbachs Appell: »Bevor man zu einem Urteil kommt, was ukrainische Arbeiter tun oder lassen sollten, sollte man mit ihnen sprechen oder versuchen, ihre Situation zu verstehen.« Er wisse selbst nicht, was die richtige Position sei, und sehe seine Aufgabe nicht darin, für einen nationalen Verteidigungskampf zu plädieren. »Aber ich plädiere für eine echte Analyse der Verhältnisse.«
Mehr Interesse an den tatsächlichen Verhältnissen in der Ukraine wünscht sich auch Vitaliy Dudin von Sotsialniy Rukh: »Abstrakte Analysen reichen nicht, man sollte die Realitäten vor Ort kennen und die Analyse daran anpassen. Ich hoffe, dass so viele Menschen wie möglich mit uns reden, dass Linke die Ukraine besuchen. Es ist möglich, nicht lebensgefährlich.«